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06. Juni 2019 | Wissen
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Europawahl: Gestiegene Wahlbeteiligung an den Europawahlen

von Verena Teuber

Am 26. Mai wurden in Deutschland die 96 Abgeordneten gewählt, die in der kommenden Legislaturperiode für Deutschland in das Europäische Parlament (EP) einziehen. Die Aktivitäten der derzeitigen EU-Abgeordneten lassen sich in der Polit-X-Datenbank verfolgen. Mit dem Maastricht-Vertrag im Jahr 1992 und dem Lissabon-Vertrag von 2009 wurden die Kompetenzen des Europäische Parlaments deutlich erweitert. Dennoch war das öffentliche Interesse für die Wahl des EP in den letzten Jahren eher gering.

Nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen weiteren Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) ließ sich seit Jahren ein Absinken der Beteiligung an der Europawahl beobachten. Bei der Wahl am 26. Mai 2019 gaben hingegen nach amtlichen Hochrechnungen 61,50 Prozent der deutschen BundesbürgerInnen und 50,95 Prozent aller EU-BürgerInnen ihre Stimme ab. Dies ist ein deutlicher Anstieg im Vergleich zur letzten Eurpoawahl: Im Jahr 2014 gingen lediglich 48,10 Prozent der Deutschen und 42,61 Prozent der europäischen BürgerInnen zur Wahl. Dieser Artikel gibt einen Einblick in politikwissenschaftlichen Ansätze und deren Erklärungsversuche.

Quelle: https://europawahlergebnis.eu/nationale-ergebnisse/deutschland/2019-2024/, Stand 27.05.2019

Europawahl als Second-Order National Election

Karlheinz Reif und Hermann Schmitt entwickelten bereits im Jahr 1980 – also nach der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments – die Theorie, dass die Europawahl in den Mitgliedsstaaten lediglich als eine „Second-Order National Election“, d.h. als eine Nebenwahl, behandelt werde. Als Hauptwahlen gelten gemeinhin Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auf nationaler Ebene. Die Wahl des EP gilt als Nebenwahl, da die Europawahl in der Bevölkerung als weniger relevant wahrgenommen wird als nationale Wahlen.

Quelle: https://www.welt.de/politik/deutschland/article194083275/Europawahl-2019-Die-Wahlergebnisse-in-Deutschland-und-Europa.html, Stand 27.05.2019

Der Ansatz geht davon aus, dass WählerInnen die Europawahl eher als Protestwahl nutzen, um nationale Regierungen abzustrafen. Das Erstarken der Parteien am rechten und am linken Rand des parteipolitischen Spektrums ließe sich so erklären. In Deutschland konnte von dieser Entwicklung vor allem die Alternative für Deutschland (AfD) profitieren. Bei dieser Wahl konnte die AfD ihren Stimmenanteil um 3,9 Prozent (11 Prozent) im Vergleich zu 2014 ausbauen. Vor allem in den neuen Bundesländern konnte die AfD WählerInnen mobilisieren – in Sachsen und Brandenburg ist sie sogar stärkste Kraft. Bei Polit-X lässt sich beispielsweise nachvollziehen, was die Bundestagsfraktion der AfD veröffentlicht oder auch, mit was sich die AfD auf Bundesebene befasst.

Die Wahlerfolge von Kleinstparteien und sehr jungen Parteien - bei dieser Europawahl bekommen die Parteien „Die Partei“, „Freie Wähler“, „ÖDP“, „Familienpartei“ und „Volt“ einen oder mehrere Sitze im EP - ließe sich mit der Nebenwahlthese erklären: Eine als gering empfundene Relevanz des EP führt dazu, dass WählerInnen weniger strategisch vorgehen und sich mehr an ihren eigentlichen Interessen orientieren.

Der Eindruck, dass die Europawahl eher irrelevant sei, wird nach „Second-Order“-Ansatz verstärkt durch das Verhalten der Parteien und der Medien: Die Parteien zeigen in der Regel weniger Engagement bei den Europawahl-Kampagnen als bei nationalen Wahlen. Der Wahlkampf ist zudem häufig EU-unspezifisch, vielmehr werden nationale Themen auf die Agenda gesetzt. Die Kandidaten, die ins EP gewählt werden sollen, sind vielen WählerInnen zudem oft unbekannt. Dementsprechend ergibt sich auch eine geringe Medienberichterstattung. All dies trägt dazu bei, dass die Wahl des Europäischen Parlaments in der Bevölkerung auch weiterhin als eine Nebenwahl wahrgenommen wird.

Der „Second-Order National Election“-Ansatz prognostiziert allerdings auch, dass mit einer geringer empfundenen Relevanz eine geringere Wahlbeteiligung einhergeht. Dies war, wie erwähnt, in den letzten Jahren auch der Fall. So hat auch die Europawahl 2019 mit einer Beteiligung von rund 60 Prozent weniger mobilisiert als Bundestagswahlen, an denen in der Regel über 70 Prozent bis zu 90 Prozent der BürgerInnen teilnehmen. Dennoch wird es mit diesem Ansatz schwierig, den Anstieg der Wahlbeteiligung um rund 13 Prozent im Vergleich zu 2014 zu erklären. Wie kam es zu dieser Mobilisierung? Es lässt sich zudem seit Jahren beobachten, dass die Volksparteien CDU/CSU und SPD kontinuierlich Stimmanteile verlieren. Möglicherweise hat das Wahlergebnis bei der Europawahl also nicht nur mit einem „Abstrafen“ der regierenden Parteien zu tun, sondern auch mit einer generellen Erosion der ehemaligen Volksparteien.

Europawahl als Issue-Wahl

Der „Issue-Voting“-Ansatz geht davon aus, dass BürgerInnen ihre Wahlentscheidung in Hinblick auf die Positionierung der Parteien zur EU treffen. Parteien, deren Agenda stark auf die EU ausgerichtet ist gewinnen bei Europawahlen demnach Stimmen, während jene Parteien Stimmen verlieren, die der EU neutral gegenüberstehen oder sie kaum thematisieren.

Der Issue-Voting-Ansatz will damit den relativ großen Erfolg euroskeptischer Parteien erklären: Anders als bei nationalen Wahlen, die eher nach einem links-rechts-Schema verlaufen, steht bei der Europawahl der Bezug auf die EU im Vordergrund, eventuell eben auch ein negativer. Anti-EU-Parteien können sich dabei in einem europäischen Kontext stärker etablieren als in einem nationalen Kontext, da sie im politischen Spektrum zumeist extrem rechts oder extrem links stehen. Vermutlich könnte dieser Ansatz auch den Erfolg der Grünen erklären: Diese haben im Vorfeld mit stärkerem Klimaschutz auf Europaebene mobilisiert, während dies nicht das Kernthema von CDU/CSU und SPD war.

Cleavage-Theorie

Ein breit rezipiertes soziologisches Erklärungsmodell für Wahlverhalten ist die sogenannte Cleavage-Theorie. Diese wurde von Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan entwickelt und besagt, dass Personen die Partei wählen, die ihre Stellung in der Gesellschaft am besten repräsentiert. Die Gesellschaft und auch die Parteien organisieren sich demnach entlang von Konfliktlinien – den Cleavages. Diese Cleavages waren traditionell etwa die Spaltung zwischen Katholizismus und Laizismus oder zwischen Arbeiter- und Bürgertum. Beide Lager werden traditionell von CDU/CSU und SPD repräsentiert. Hatten diese Cleavages bis in die 1960er Jahre eine große Bedeutung, nahm diese seither ab. Ronald Inglehart hat mit dem Konflikt zwischen Materialismus vs. Postmaterialismus eine weitere Achse identifiziert, mit der sich die Entstehung der Partei Bündnis90/Die Grünen und anderer grüner Bewegungen erklären lässt. Es lässt sich des Weiteren ein Trend zur Individualisierung und Pluralisierung erkennen: Durch diese Entwicklungen sind die Menschen nicht mehr in soziale Milieus eingebunden, die sich trennscharf voneinander abgrenzen lassen und aus denen sich eindeutige Wertzuschreibungen eines Individuums ableiten lassen. Vielmehr koppeln sich Sozialstruktur und Werteorientierung oftmals voneinander ab. Diese Entwicklung schwächt die Bindung an politische Parteien generell, woraus ein gestiegener Anteil an WechselwählerInnen und NichtwählerInnen resultiert. Dies schlägt sich auch bei der Europawahl nieder.

Fazit

Diese theoretischen Ansätze bilden bei weitem nicht alle Erklärungen aus dem Bereich der Wahlforschung ab, sollen jedoch eine erste politikwissenschaftliche Einordnung der Ergebnisse der Europawahl aufzeigen. Interessant für die weitere Forschung ist es herauszufinden, welche Faktoren genau zum Anstieg der Wahlbeteiligung in Deutschland und in der EU insgesamt beigetragen haben. Es zeichnet sich bereits ab, dass – dem Cleavage-Ansatz folgend – eine grüne Klimapolitik stark mobilisierend wirkte und zwar vor allem bei der jüngeren Bevölkerung. Doch auch die AfD konnte, gerade im Osten Deutschlands, Stimmen hinzugewinnen. Ob dies aus Protest erfolgte, wie der „Second-Order“-Ansatz unterstellt oder inhaltliche, europapolitische Gründe dafür sprechen (wie etwa Europa-Skeptizismus oder das Thema Migration), muss die weitere Forschung herausarbeiten.

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Quellen

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