Blogartikel
17 December 2020 | Wissen
Back to Blog

EU-Gesetzgebung im Mehrebenensystem

Die Bundesrepublik Deutschland besteht aus einem Mehrebenensystem – also einer föderalen Ordnung, die auf einer institutionellen Verschränkung und auf dem Zusammenwirken verschiedener Ebenen basiert. In Deutschland sind das die Bundes-, Länder- und Kommunalebene. Mit der Europäischen Union ist noch eine weitere, übergeordnete Ebene hinzugekommen, die Auswirkungen auf die unteren Ebenen hat.



Viele politische Entscheidungen werden auf der EU-Ebene als übergeordneter, supranationaler Ebene getroffen, und müssen dann auf den nationalen Ebenen implementiert werden. Hierbei gilt der Grundsatz: Europäisches Recht bricht nationales Recht. Die Kompetenzabgrenzungen zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten sind im Vertrag von Lissabon außerdem wie folgt umrissen:


  • Ausschließliche Zuständigkeit der EU: Zollunion, Wettbewerbsregeln des Binnenmarktes, gemeinsame Handelspolitik, gemeinsame Währungspolitik und Erhaltung der Meeresschätze.
  • Geteilte Zuständigkeit zwischen Mitgliedstaaten und EU: sonstige Binnenmarkt-Angelegenheiten, Sozialpolitik, wirtschaftlich-soziale Zusammenarbeit, Landwirtschaft und Fischerei, Umwelt, Verbraucherschutz, Verkehr und transeuropäische Netze, Freiheit/Sicherheit/Recht und gemeinsame Gesundheitssicherung.


Zwei Prinzipien sind bei der Kompetenzausübung leitend: Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass eine Aufgabe von der untersten Einheit ausgeführt werden muss, die dazu befähigt ist. So soll die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten geschützt werden und gleichzeitig die EU legitimiert werden, tätig zu werden, wenn eine Maßnahme besser auf der supranationalen Ebene geregelt werden kann. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit besagt, dass nur Maßnahmen ergriffen werden dürfen, die geeignet, erforderlich und angemessen sind.

Im Folgenden werden die Auswirkungen der EU-Gesetzgebung auf die Bundes-, Länder- und Kommunalebene skizziert.


Auswirkungen des EU-Rechts auf die Bundesebene

Im Zuge der europäischen Integration kam es zu einem Kompetenzverlust der nationalen Gesetzgebung – im Falle Deutschlands zu einem Kompetenzverlust des Bundestages –, da die Gesetzgebung der EU als höherer Ebene auch mehr gilt als die Gesetzgebung des Bundestages. Die Gesetzgebungskompetenzen der EU gehen also direkt von den Kompetenzen des Deutschen Bundestages ab. Auch das Bundesverfassungsgericht ist nicht mehr die oberste Instanz der deutschen Rechtsprechung, diese Rolle hat nun der Europäische Gerichtshof inne. Die EU regiert also weit „in die Mitgliedstaaten hinein“.

Anders als die deutschen Parlamente und Gerichte konnte die Bundesregierung, also die Exekutive, ihre Kompetenzen durch die Europäisierung ausbauen: Sie benennt die deutsche EU-KommissarIn und die deutsche RichterIn am Europäischen Gerichtshof. Außerdem ist die Bundeskanzlerin im Europäischen Rat – also dem Rat der Staats- und Regierungschefs - vertreten, welcher die Richtlinien der EU festlegt; die deutschen MinisterInnen sind Mitglieder des Rates der EU – also dem Ministerrat.


Auswirkungen des EU-Rechts auf die Bundesländer

Auch auf der Ebene der deutschen Bundesländer lassen sich Folgen der Europäisierung beobachten, da auch hier Kompetenzen auf die europäische Ebene übertragen wurden. So werden die beiden wichtigsten autonomen Zuständigkeitsgebiete der Länder – Bildung und Verwaltung – vielfach durch die EU beeinflusst. Ebenso müssen die Bundesländer Kompetenzverluste zugunsten einer europaweiten Polizeizusammenarbeit hinnehmen.

Wie auf der Bundesebene geht auch in den Ländern die Kompetenzverschiebung zulasten der Legislative und zugunsten der Exekutive: Die Beteiligung der Bundesländer an der Europapolitik erfolgt durch die Landesregierungen, die Implementation der europäischen Rechtsetzung durch die Verwaltungen der Länder.

In den 90er Jahren haben die Landtage spezielle Europaausschüsse eingerichtet, deren Einfluss allerdings als schwach bewertet wird. Die einzelnen Bundesländer unterhalten unterdessen eigene Vertretungen in Brüssel, um ihre Interessen zu artikulieren.


Auswirkungen des EU-Rechts auf Kommunen und Gemeinden

Auch auf die Kommunen und Gemeinden wirkt sich die Gesetzgebung der EU unmittelbar aus. Kommunen regeln im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung eigenverantwortlich alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft mit eigenen Mitteln. Die Aufgaben der Kommunen sind durch die Landesverfassungen geregelt. Auch hier gilt das Subsidiaritätsprinzip: Die Gesetze des Bundes und der Länder werden also wenn möglich durch die unterste Verwaltungsinstanz ausgeführt – die Kommunen. Andere Systemebenen werden erst tätig, wenn die Erledigung der Aufgaben auf der kommunalen Ebene nicht möglich ist oder homogene Lösungen erforderlich sind.

Ein großer Teil der Vorgaben der EU wird so durch die Kommunen umgesetzt: Sie sind von rund 75% aller EU-Rechtsakte betroffen; circa zwei Drittel aller kommunalen Vorschriften haben ihren Ursprung in der EU-Rechtsetzung.

Die Gesetzgebung der EU wirkt sich dabei besonders auf folgende Themen der kommunalen Selbstverwaltung aus:


  • Kommunale Gewerbeförderung: Die EU sieht eine Einschränkung der kommunalen Gewerbeförderung vor. Bei kleinen und mittelgroßen Unternehmen verfügen die Gemeinden zwar noch über einen Spielraum, die Förderung großer Unternehmen jedoch wird durch die EU reguliert.
  • Kommunale Auftragsvergabe: Öffentliche Aufträge ab 150.000 Euro und Bauvorhaben ab sechs Millionen Euro sind öffentlich auszuschreiben, damit nicht ortsansässige Firmen bevorzugt werden.
  • Daseinsvorsorge: In Deutschland versorgen traditionell die Kommunen ihre BewohnerInnen mit Energie, Wasser, öffentlichem Nahverkehr, Sparkassen, Krankenhäusern, Müllbeseitigung, Bildungs- und Kulturangeboten etc. Diese Monopolstellung der Kommunen wurde durch die EU infrage gestellt. Einige Bereiche, wie zum Beispiel die Telekommunikation, Post, öffentliche Verkehrsmittel und die Energieversorgung wurden teilweise liberalisiert und sind nun durch europäische Rechtsvorschriften reguliert. Andere Dienstleistungen – wie beispielsweise die Abfallwirtschaft, die Wasserversorgung und der öffentlich-rechtliche Rundfunk – sind nicht umfassend auf europäischer Ebene reguliert; für sie gelten die europäischen Vorschriften für den Binnenmarkt und den Wettbewerb.
  • Auch in Umweltfragen haben die Entscheidungen der EU Auswirkungen auf die Kommunen; ein Beispiel hierfür ist etwa die EU-Feinstaubrichtlinie


Die Mehrzahl der politischen Zielsetzungen der EU kann nicht ohne die Mitarbeit der Kommunen verwirklicht werden. Diese Betroffenheit führt dazu, dass immer mehr Kommunen Europabeauftragte benennen, die Informationen sammeln, auswerten, weiterleiten und Förderanträge koordinieren.

An der Entscheidungsfindung an sich sind die Kommunen jedoch oft nur rudimentär beteiligt. Die Selbstverwaltung der Kommunen scheint dadurch eingeschränkt und einer zunehmenden Fremdbestimmung durch die EU unterworfen zu sein. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass inzwischen auch deutsche kommunale Spitzenverbände mit eigenen Büros in Brüssel anzutreffen sind. Große deutsche Städte beteiligen sich außerdem in dem Verbund für große europäische Städte („Eurocities“), der auch über ein Brüsseler Büro verfügt. Kreisfreie Städte erleichtern sich die Kommunikation mit der EU durch zahlreiche „Europastellen“.


Es ist wichtig, ein Thema auf allen politischen Ebenen zu verfolgen. Wenn sie die umfangreiche Datenbank und die Analysetools von Polit-X einmal dafür testen wollen, können Sie hier einen kostenlosen Testzugang anfordern.


Verwendete Literatur

  • Bundeszentrale für politische Bildung (2010): Europäische Gesetzgebung. bpb.de. Online verfügbar.
  • Große Hüttmann, Martin (2008): „Föderalismus taugt nicht für Europa“: Politikverflechtung und Europapolitik in Deutschland. In: Scheller, Henrik/Schmid, Joseph (Hrsg.), Föderale Politikgestaltung im deutschen Bundesstaat. Variable Verflechtungsmuster in Politikfeldern. Baden-Baden: Nomos, 127–148.
  • Holtmann, Everhard/Rademacher, Christian/Reiser, Marion (2017): Kommunalpolitik. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
  • Piepenschneider, Melanie (2015): Vertragsgrundlagen und Entscheidungsverfahren. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Europäische Union. Informationen zur politischen Bildung. überarbeitete Neuauflage. 18–35.
  • Reiners, Markus (2019): Kommunen im europäischen Mehrebenensystem. Spannungsfeld zwischen kommunaler Selbstverwaltung und mangelnder Handlungsautonomie. Regierungsforschung.de. Online verfügbar.
  • Rudzio, Wolfgang (2019): Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. 10. Auflage. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
  • Sturm, Roland (2013): Die EU und der deutsche Föderalismus. bpb.de. Online verfügbar.